»Turner im oberen Mittelrheintal«
Die Gemälde von William Turner zählen zu den wichtigsten und populärsten Kunstwerken der Rheinromantik. Der britische Maler bereiste mehrfach den Rhein. Er war fasziniert von der Erhabenheit der Natur, den Ruinen und den weinbewachsenen Hängen des Rheins. Turners genaue Beobachtungsgabe und sein ungeheures Gespür für Dynamik und Lichtspiele hinterließen uns zahlreiche Aquarelle basierend auf den unzähligen Skizzen seiner ersten Rheinreise 1817. Mit fast fotografischer Präzision, aber dennoch künstlerisch überhöht und collagiert, werden Landschaften, Städte und menschliche Aktivitäten von ihm festgehalten.
Die »William Turner Route«
Insgesamt 26 Standorte zwischen Koblenz und Bingen markieren wichtige Stationen auf der Reise Turners durch das Obere Mittelrheintal. Seine hier entstandenen Momentaufnahmen verarbeitete er zu meisterhaften Aquarellen, die seine Leidenschaft für die besondere Atmosphäre und die Ursprünglichkeit der Landschaft um den poetisch verklärten Strom spürbar werden lassen. Begehbare Infotafeln und interaktives Storytelling lassen den Betrachter in die Welt des Malers eintauchen.
Die begehbaren Informationstafeln der William Turner Route werden sukzessive über die nächsten Jahre vor Ort umgesetzt. Den Auftakt in 2017 bildeten die Standorte 9, 10, 11 und 12 im Umkreis von St. Goar und dem gegenüberliegenden St. Goarshausen. Im Januar 2020 folgte die Realisation der Standorte 13, 14, 15 und 17 mit Blick auf die Loreley und Oberwesel. In 2022 kamen die Standorte 6, 7, 18 und 19 hinzu. Über den weiteren Fortschritt wird entsprechend berichtet. Bereits jetzt ist das gesamte Repertoire an Turners ausgewählten Rheinansichten über die Website digital erfahrbar.
Folge den Spuren des Künstlers und entdecke seine faszinierende Sicht auf das Tal.
»Aufbruch in eine neue Welt«
William Turner hat in seinem Leben schon unzählige Skizzen angefertigt, Bilder komponiert und meisterhafte Werke geschaffen. Der sagenumwobene Rhein war bisher keines seiner Motive. Er ist voll gespannter Erwartungen an den »Father rhine«, als er sich im Sommer 1817 auf die Reise begibt.
Am Morgen des 10. August 1817 verlässt Turner seine Heimatstadt London. Mit der Postkutsche reist er über Belgien und die Niederlanden. Nach acht Tagen erblickt er in Köln zum ersten Mal den Rhein. Er trägt nur leichtes Gepäck bei sich, denn die meisten Kilometer wird er zu Fuß zurücklegen – auf steinigen und verwucherten Pfaden entlang des mächtigen Stroms. Er folgt der »Route Napoleon« am Westufer des Rheins. Nachdem er einige Skizzen in Bonn und Remagen angefertigt hat, erreicht er am Abend des 21. August die Stadt Koblenz.
»Ich hatte das Glück, einen (…) kleinen, älteren Herrn kennenzulernen, der wahrscheinlich während der ganzen Fahrt mein Reisegefährte sein wird. Er streckt ständig den Kopf aus dem Fenster, um zu skizzieren, was immer seine Phantasie anregt, und wurde recht zornig, weil der Kutscher nicht warten wollte, während er den Anblick (…) beim Sonnenuntergang festhielt.
›Verfluchter Kerl‹, sagte er. ›Er hat kein Gefühl‹.
Nach seinen Gesprächen ist er so etwas wie ein Künstler, wenn nicht ein echter. Vielleicht wissen Sie etwas über ihn. Der Name auf seinem Koffer ist J.W. oder J.M.W. Turner«
»Den Rhein vor Augen«
Donnerstag, der 21. August 1817 ist ein warmer, sonniger Sommertag, der Rhein präsentiert sich von seiner besten Seite. Kein Wunder, dass Turner gleich zwei Nächte hier verweilt und die Eindrücke der alten Römerstadt genießt. Besonders die Festung Ehrenbreitstein fasziniert ihn. Aus den unterschiedlichsten Perspektiven hält er seine Eindrücke und Studien im »Waterloo and Rhine«-Skizzenbuch fest. Die idyllische Lage zwischen Rhein und Mosel wird ihn nachhaltig begeistern. Noch Jahre später kehrt er oft hierher zurück.
Erst mehr als 20 Jahre später führt er diese Aquarellserie der Festung auf Vorlage seiner gesammelten Architekturstudien aus. Sie gilt als eine seiner schönsten und zeigt schon sehr früh sein beispielloses Gespür für die Farbe und das Licht.
»Er sieht zeichnend«
Der Maler setzt seinen Weg am Samstag, den 23. August in Richtung Boppard fort. Er marschiert entlang des westlichen Rheinufers, umgeben von der urwüchsigen Natur des Tals. Die sommerliche Landschaft beflügelt sein kreatives Schaffen. In einer schnellen Skizze hält er den Blick auf die Burgen Stolzenfels und Lahneck fest. Dann setzt er mit dem Boot über nach Lahnstein.
Seine Route führt ihn weiter bis kurz vor Braubach. Unzerstört thront die Marksburg mächtig auf den Anhöhen des Rheins. Diesen Anblick hält Turner in drei großen Skizzen fest. Mit dem Fährschiff überquert er erneut den Fluss, um seine Wanderung nach St. Goar fortzuführen.
»Ein strammer Fußmarsch«
Gut die Hälfte seines Tagespensums von fast 40 Kilometern hat Turner hinter sich gebracht, als er in Boppard ankommt. Er ist von dem lebhaften Städtchen angetan. Besonders die Menschen und das geschäftige Treiben am Fluss erwecken sein Interesse. Auch hier fertigt Turner zahlreiche Skizzen an.
Sein weiterer Weg entlang des Ufers führt ihn vorbei an den Burgen Sterrenberg und Liebenstein, genannt »Die feindlichen Brüder«. Als sich der Tag dem Ende neigt, bleibt nur wenig Zeit, Burg Maus bildlich festzuhalten. Wenige Zeichnungen später erreicht er nach einem langen und teils beschwerlichen Wandermarsch die Stadt St. Goar.
»Im Tal der Loreley«
Ähnlich wie Koblenz wird auch St. Goar zur einer wichtigen Station auf Turners Reise. Mit drei Skizzenbüchern und einem Dutzend Bleistiften bepackt, nimmt er sich den kompletten Sonntag Zeit, um die Stadt und ihre Umgebung zu erkunden. Die steilen Anhöhen der Burgen Katz und Rheinfels bieten ihm sagenhafte Blicke auf den ruhigen Fluss und das enge Tal. Die Anmut des gewaltigen Loreleyfelsens beeindruckt Turner ganz besonders. Durch seine massive Erscheinung wird er zu einem der bedeutendsten Motive seiner Reise. Turner erfasst seine Eindrücke von mehr als sieben Standpunkten aus.
»Eine beschwerliche Reise«
Am Morgen des 25. August packt Turner frohen Mutes seine Sachen zusammen. Der längste und zugleich beschwerlichste Abschnitt seiner Reise liegt vor ihm. Die etwa 56 Kilometer bis nach Mainz unterteilt er in zwei Etappen. Über den Treidelpfad am westlichen Rheinufer erreicht er bald die Stadt Oberwesel und den Ausblick auf Kaub, mit der Inselburg »Pfalzgrafenstein«. Unaufhörlich zeichnet er – hält Landschaften, kleine Orte und die zahlreichen Burgruinen mit präzisen Strichen fest. Nach einem kräftezehrenden Marsch gelangt Turner schließlich nach Bingen.
»Rückkehr nach England«
In Bingen verändert sich die Landschaft. Der Fluss wird ruhig und weitläufig – keine Umgebung für einen Fußgänger auf der Suche nach dem »Pittoresquen«. Für die letzten Kilometer bis nach Mainz wechselt der erschöpfte Wanderer auf das Passagierboot. Auf Deck genießt Turner die Ruhepause und den Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Es entstehen bedeutend weniger Skizzen.
Nach einem Tag in Mainz tritt Turner am Mittwoch, den 27. August seine Rückreise nach England an. Die 830 Kilometer lange Strecke legt Turner zunächst mit dem Schiff zurück. Seine Skizzenbücher sind bis zum Rand gefüllt. Freie Flächen nutzt er für flüchtige Eindrücke während der Bootsfahrt. Sie gewährt ihm neue Ansichten auf bereits vertraute Motive. Mit kurzen Übernachtungen in St. Goar, Koblenz und Köln trifft er am Montag, den 1. September 1817 wieder in seiner Heimatstadt London ein.
»Eine Reise mit prägendem Charakter«
Turners Reiseeindrücke und Zeichnungen füllen drei Skizzenbücher. Die Wintermonate wird Turner damit beschäftigt sein, seine Studien in beeindruckende Gemälde umzusetzen. Dabei entstanden 51 Aquarelle alleine für seinen Auftraggeber Walter Fawkes. Die Serie gehört zu seinen Schönsten und hatte großen Einfluss auf die Werke späterer Jahre. Turners Gemälde wurden an Förderer und Sammler verkauft oder erreichten als Stahlradierungen ein noch größeres Publikum. Heute findet man sie in Museen und Privatsammlungen auf der ganzen Welt.
Turners Rheinreise von 1817 – sein erster Auslandsaufenthalt überhaupt – war nicht nur ein beruflicher sondern auch ein persönlicher Triumph. Sie gab ihm das Selbstvertrauen, Jahr für Jahr erneut ehrgeizige Expeditionen zu unternehmen. Die dabei geschöpfte Inspiration und das unendliche Repertoire an Skizzen stellten die Quelle seiner künstlerischen Entwicklung dar. Mit seinem umfangreichen Œuvre über das Mittelrheintal zählt William Turner zu den prägendsten Persönlichkeiten der Rheinromantik.